Oertel, Richard

Richard Oertel
* 14.09.1860 in Horn
† 14.02.1932 in Simmern
Vater: Hugo Oertel
Mutter: Jacobine, geb. Caesar

Biografie

Richard Oertel kam als Kind einer wahren Hunsrücker Pfarrerdynastie zur Welt. Sein Vater war der vierte Pfarrer in der Familie in ununterbrochener Reihenfolge. Einige dieser Pfarrer taten sich durch weit über ihren Hauptberuf hinausgehende Leistungen hervor. Großvater Wilhelm Oertel machte sich unter dem Pseudonym W.O. von Horn einen Namen als Heimat- und Volksschriftsteller. Vater Hugo Oertel war jahrzehntelang Direktor der Rettungs- und Konfirmandenanstalt Auf dem Schmiedel und Gründungsvorsitzender des evangelischen Krankenhausvereins Simmern. So wurde Richard in eine Familie hineingeboren, die ganz besonders mit dem Hunsrück und seinen Menschen verbunden war.

Nach dem Abitur in Kreuznach begann er 1879 in Tübingen mit dem Studium der Theologie, war Einjährig Freiwilliger im 7. Württembergischen Infanterieregiment und Mitglied in der Burschenschaft Derendingia. Es folgten weitere Semester in Leipzig und Bonn. 1883 legte er sein erstes theologisches Examen ab; nach dem Vikariat in der Gemeinde Kappel-Leideneck folgte 1885 das zweite theologische Examen. Danach ging er für ein Jahr als Hauslehrer nach Rom, um dort die 14 Kinder der Künstlerfamilien Robert und Carl Cauer zu unterrichten. Während dieser Zeit verliebte er sich in Elisabeth, die älteste Tochter von Robert Cauer, die er dann im November 1886 heiratete. Kurz danach trat er seine erste und einzige Pfarrstelle, die er 43 Jahre innehatte, in Neuerkirch und Biebern an. Hier berührte ihn in besonderem Maße die bittere Armut der Bauern. Er wollte Abhilfe schaffen und gründete 1892 den Hunsrücker Bauernverein, den er bis 1921 führte.

Unter der Leitung von Oertel etablierte die mehr als 5.000 Mitglieder zählende bäuerliche Interessenorganisation durch die Gründung von Spar- und Darlehenskassen, Molkereien und Bezugsorganisationen das Raiffeisensche Genossenschaftswesen im Hunsrück, wodurch die wirtschaftliche Entwicklung des Bauernstandes bemerkenswert gefördert wurde. Die Darlehnskassenvereine ermöglichten den Hunsrücker Bauern erstmals die Aufnahme von Krediten für betriebliche Investitionen. Ihre Milch konnten sie nun an Sammelmolkereien abliefern, die die Verarbeitung und Vermarktung übernahmen, was den Bauern nicht nur Einnahmen, sondern auch Zeitersparnis brachte. Mit Hilfe der Bezugsorganisation beschaffte der Hunsrücker Bauernverein für seine Mitglieder notwendige Betriebsmittel wie Saatgut und vor allem Düngemittel, die bis dahin im Hunsrück nicht eingesetzt wurden und zu bisher nicht gekannten Ernteerfolgen führten.

Eine vereinseigene Rechtsschutzkommission erteilte allen Mitgliedern kostenlose Auskünfte, wenn sie rechtliche Probleme beim Viehhandel, bei Grundstücks-, Versicherungs- oder Unfallangelegenheiten hatten. Neben dieser Rechtsberatung hatte jedes Mitglied auch einen Anspruch auf Rechtsschutz; der Verein übernahm auf seine Kosten die Prozessangelegenheiten der Mitglieder und führte für sie notwendige Gerichtsverfahren.

Der Hunsrücker Bauernverein entwickelte sich durch Oertel in kurzer Zeit zur mitgliederstärksten und mächtigsten bäuerlichen Interessenorganisation in der Region zwischen Nahe, Mosel und Rhein, was den Vorsitzenden Richard Oertel zwangsläufig zu einer führenden Persönlichkeit machte. Ausgestattet mit einem gewissen Machtinstinkt lenkte er die Bauern auch in politischen Fragen. Bevorzugte Oertel einen konservativen Wahlkreiskandidaten für den Reichstag, so mussten die Mitglieder konservativ wählen; war ihm ein nationalliberaler Kandidat lieber, dann hatten sie bei diesem ihr Kreuz zu machen. Diese energische und machtvolle Beeinflussung trieb zwar die dem Zentrum zugetanen Katholiken aus dem „evangelischen Bauernverein“, machte Oertel 1912 aber selbst zum liberalen Abgeordneten, zunächst im Preußischen Abgeordnetenhaus, dann in der Weimarer Nationalversammlung und von 1920 bis 1924 im Reichstag.

Als Parlamentarier entwickelte Oertel jedoch eine vergleichsweise geringe Bedeutung und kam in Berlin nicht über den Status eines Hinterbänklers hinaus. Seine bleibenden Verdienste erwarb er sich als Bauernführer im Hunsrück und nicht als Parlamentarier in Berlin.

Literatur

  • Achim R. Baumgarten und Andreas Nikolay, Richard Oertel, Genossenschaftspionier, Politiker, Pfarrer, Bauernführer, Zum 70. Todestag eines Visionärs, Simmern 2002.
  • Andreas Nikolay, Pfarrer Richard Oertel (1860-1932) und der Hunsrücker Bauernverein, Simmern 2001.

Dr. Andreas Nikolay, Simmern
Heft 126 | Stand: 03/2005